Dividenden Blog

16. Mai 2023

Eine willkürliche Episode aus meinem Berufsleben

Es muss um das Jahr 2007 gewesen sein. Ich arbeitete in der deutschen Niederlassung eines US-Konzerns und kümmerte mich um die EMEA (Europe, Middle East, Asia) Websites. Angesiedelt war ich im Marketing. Es war die Firma, in der ich auch eine Ausbildung gemacht hatte, und ich wurde glücklicherweise übernommen.

Investitionen in den Standort waren äußerst gering. Von der US-Zentrale hieß es immer, man investiere dort, wo man mit dem Invest die höchste Marge machen kann. Wir waren selten in dieser Kategorie, daher wurde nur investiert, wenn etwas am Arsch war oder man zum Beispiel den Headcount (die Anzahl der Angestellten) reduzieren konnte.

Dementsprechend habe ich auch nie wirkliche Neueinstellungen mitbekommen. Klar, wenn jemand kündigte, wurde die Stelle in der Regel nachbesetzt und ebenfalls ausgebildet. Und man muss auch sagen, dass die meisten Azubis nach der Ausbildung fest übernommen wurden.

Lastspitzen wurden fast immer mit Leiharbeitern ausgeglichen. Diese konnte man dann natürlich einfach wieder „zurückgeben“.

In der Firma wurden gerne japanische Arbeitsmethoden angewandt: Kaizen und 5S.

5S ist eine Methode, um Arbeitsplätze sauber, ordentlich und sicher zu halten.

Dagegen ist nichts einzuwenden.

Das lief am Beispiel einer Schublade (im Büro) so ab:

Eine Schublade hatte diverse Inhalte, nehmen wir Kugelschreiber, Post-its, Tesafilm, eine Schere, einen Locher, ein Lineal, einen Tacker, einen Schreibblock usw. Die Schublade wurde geöffnet und die vorhandenen Inhalte sortiert und ordentlich hineingelegt. Dann wurde davon ein Foto gemacht, das mit einem beschreibenden Text laminiert und in der Nähe der Schublade an eine Wand geklebt wurde.

So wurde das für nahezu alle Dinge und Orte gemacht, an denen Unordnung entstehen konnte: Schränke, Arbeitsplatten von Schreibtischen, Regale, Küchen usw.

Folglich hingen überall laminierte Anweisungen, wie ein Platz nach der Benutzung zu verlassen ist. Hübsch war es nicht, aber sei es drum.

Dagegen könnte man jetzt schon etwas einwenden.

Man kann davon ausgehen, dass, wenn man solche Maßnahmen ergreift, die Mitarbeiter es mit Ordnung etc. nicht so genau nehmen. Zumindest in meiner Abteilung hatte ich allerdings nicht den Eindruck. Aber okay, ich kann es verstehen. Arbeitsplätze, Schränke usw. werden von verschiedenen Menschen benutzt, und es ist nur fair, diese sauber und ordentlich zu hinterlassen. Sollte es also diesbezüglich ein Problem geben, habe ich nichts gegen laminierte Informationen.

Nur war das auch nicht das Ende.

Irgendwann kam man auf die Idee, das auch regelmäßig zu kontrollieren.

Und das ging so:

Eine Delegation machte sich einmal im Monat auf den Weg durch die Firma und öffnete diverse Schubladen und Schränke, kontrollierte Schreibtische und weitere Arbeitsplätze. Diese Delegation bestand nicht aus normalen Angestellten, sondern u.a. aus Mitgliedern der Geschäftsführung, der Personalabteilung und Leitern von anderen Bereichen.

Es ist mir also mehrmals passiert, dass der Personalchef vor meinem Schreibtisch stand, meine Schubladen und Schränke öffnete und schaute, ob darin alles nach Vorgabe war.

Um das nun auch noch zu messen und vergleichbar zu machen, gab es ein Punktesystem.

Eine Abteilung bekam 100 Punkte vor der Kontrolle, und für jede Abweichung von der Vorgabe gab es Punktabzug. War eine Schublade nicht ordentlich, gab es z.B. einen Punktabzug. Gab es einen sicherheitsrelevanten Fehler, auch mal 5 Punkte Abzug.

So entstand Monat für Monat eine Liste aller Abteilungen mit ihren Punkten. Diese wurden natürlich dann veröffentlicht, und man konnte schauen, wer in diesem Monat die Loser waren.

Eine Kollegin von mir hatte Fotos ihrer Tochter auf dem Schreibtisch stehen. Aus jedem Lebensjahr ein Foto. Das Kind war sieben Jahre alt, und dementsprechend waren es sieben Fotos.

Das war laut der Delegation leider zu viel, und sie musste die Anzahl der Fotos auf zwei reduzieren.

Ich denke, dies nannte man damals erfolgreiche Mitarbeitermotivation.

Kommentare:

  1. Andy

    Hey cool, sowas haben wir damals bei der Bundeswehr auch gespielt. 🙂

  2. Kassenwart

    Schon mal dran gewöhnen. Kommt gerade groß in Mode und nennt sich Social Scoring.
    Bewertet wird allerdings nicht mehr vom Arbeitgeber, den man wechseln könnte, sondern vom „wohlmeinenden“ Staat.

  3. Jess

    Interessanter Einblick. Nun hast du aber gar nicht geschrieben, wie du das findest. An und für sich hört sich so ein System gut an, allerdings finde ich, dass die Schublade am Schreibtisch mir gehört und ich darüber entscheide, was da wie aufbewahrt wird. Schränke und Co. kann ich aber nachvollziehen, oft sammeln sich da ja Dinge an, die man nicht mehr zuordnen kann.

  4. Hanna

    die Mitglieder der Geschäftsführung hatten wohl insgesamt ein bisschen wenig zu tun ;D nicht überall kann man es sich leisten jeden Monat alle Büros anzugehen und solche Sachen zu kontrollieren

  5. Stefan

    Also ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Modus Operandi in meiner Firma einen Aufstand auslösen würde. Wenn ich in meiner Schublade/Rollcontainer nun etwas Persönliches habe, verletzt diese Vorgehensweise auch meine Privatsphäre. Ehrlich: Da gehste nicht gerne hin.

  6. Languno

    Bei uns gab es schon vor der Pandemie nur noch paperless office.
    Die persönliche Schublade war abschließbar und es hat keinen interessiert was drin war. Die meisten hatten eh nur Ibuprofen drin xD

    Grüße aus Spanien

  7. Andrea Ge

    seh ich auch so wie Jess und Stefan: meine Schreibtisch-Schubladen gehen niemanden was an!

    Schränke: wenn da Materialien drin sind, ja ok, die sind für alle da, wobei ich hier auch bevorzugen würde, dass die Mitarbeiter das unter sich regeln.

    Wenn die GF wirklich Schränke und Schubladen kontrolliert, haben sie wohl Langeweile, genau, Hanna. Würde mir Sorgen bereiten und ich würde mich fragen, ob sie auch die PC-Aktivitäten und Telefonate loggen oder überprüfen.

    Social Scoring (vgl. auch China) ist ein Unterdrückungsinstrument, egal wie harmlos es bei uns anfangs erscheinen mag… keine guten Zukunftsaussichten.

  8. Andrea Ge

    PS.: zu den Fotos der Kollegin: hm ja, sieben Fotos mag etwas grenzwertig sein 😉 v.a. wenn man das weiterdenkt. Zwei Fotos als Limit finde ich wiederum zu wenig, natürlich weiß man jetzt nicht, wie groß die Fotos waren… Ich finde drei nicht zuviel für einen normal großen Schreibtisch. Aber ich würde auch bei sieben Fotos nicht intervenieren.

    Generell ist letzteres (Fotos, Büro-, Arbeitsplatzgestaltung) so ein Grenzbereich zwischen Privatmensch und angestellter Person, also zwischen Mensch und „Unternehmensbestandteil“. Man verkauft ja nicht nur seine Lebenszeit, sondern auch ein bißchen sein Menschsein, wenn man für ein Unternehmen arbeitet. (Und wenn es schlecht läuft, muß man zu einem gewissen Grad seine eigene Meinung aufgeben oder geheimhalten.)

    Bei manchen Regelungen finde ich es gruselig, wenn z.B. Büros gläserne Wände haben (nach außen oder nach innen) und quasi das instinktive grundlegende menschliche Bedürfnis nach einem „geschützten Raum“ direkt massiv sabotiert wird.
    Gläserne Innenwände zum Flur (also, eigentlich Innenfenster ab ca. 80 cm Höhe) wurden bei uns in einem Gebäudeteil kürzlich eingeführt und die meisten Leute haben die Flächen gleich mit Postern blickdicht gemacht. Viele Poster. Große.

    Und ich war mal im Zug unterwegs und konnte auf ein Gebäude eines Autokonzerns schauen (BMW?), das gläserne Außenwände hatte, also alles Fenster, komplett von 0 cm Höhe bis zur Decke war alles sichtbar. Ich konnte in viele Büros direkt reinschauen und dachte mir, was für ein Horror, da würde ich nicht arbeiten wollen, wenn wirklich jeder dir reingucken kann, was Du grad machst. Wie im Zoo, wobei Zootiere aber tatsächlich Rückzugsmöglichkeiten haben.
    Die Angestellten können höchstens aufs WC gehen als Rückzugsmöglichkeit… oder vielleicht gibt es Pausenräume, die nicht so offen sind, das konnte man natürlich von außen so nicht sehen.

  9. Kiev

    Die Firma hätte ich bei der sich nächsten bietenden Möglichkeit sofort gewechselt.

    Mein Erfahrungsschatz als Angestellter ist mit zwei Firmen sehr übersichtlich. So etwas habe ich hier zum Glück nicht erlebt, auch wenn es in kleinerem Umfang Dinge gab, die mir nicht immer gefallen haben. Unfreundliche Kollegen gibt es immer und das ist in Ordnung, wenn es kein System hat. Es gibt/gab natürlich auch sehr freundliche Kollegen und tolle Erlebnisse im Team.

    In meinem Schrank und auch Spint ist nichts privates enthalten und auch nichts von besonderem Interesse. Ein Kontrollgang würde mich aber trotzdem stören. Da hätte ich vielleicht ein paar Vorschläge.

    Wie wäre es mit dem Tracken der Aufenthaltszeiten im WC? Wenn der Angestellte vielleicht noch mit einem kleinen Wisch bescheinigen könnte was er dort genau gemacht hat… Da könnte man vielleicht ein KI Modell aufsetzen, dass in den Big Data Sätzen nach Korrelationen sucht. Und schwupps gibt es für manchen Angestellten am Dienstag keine Currywurst in der Kantine.

    So etwas habe ich aber auch schon einmal bei einem erfolgreichen Unternehmen gehört. Das hier außerhalb von Corona Engpässen die Anzahl der Klorollen getrackt wird. Hier könnte das Engagement vermutlich in der Entwicklung und Verbesserung der Produkte bessere Ergebnisse erzielen.

  10. Vroma

    „Diese Delegation bestand … aus Mitgliedern der Geschäftsführung, der Personalabteilung und Leitern von anderen Bereichen.“

    Ich hätte hier sehr schnell Einsparungspotential gefunden.

    Wenn man mal ausrechnet was diese Kontrollen kosten, wobei der Nutzen gegen 0 strebt…

    Ist aber ein wunderschönes Beispiel für die elendige Bürokratiespirale.

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